Gelassenheit und Mitgefühl

von | Jan 1, 2024

Was wir wissen, ist ein Tropfen. Was wir nicht wissen, ist ein Ozean. (Isaac Newton)

Wir fliegen mit gigantischen Maschinen durchs Weltall. Wir entwickeln Quantencomputer und durchleuchten Körper mit Strahlentechnik. Wir bauen 300 Meter hohe Wolkenkratzer und können Bilder in Null-komma-nichts um die Welt schicken. Ja, wir sind voll bis unter die Schädeldecke mit Technik und Wissen. Und doch wissen wir fast nichts.

Und so wird es immer weiter gehen. Wir können niemals wissen und verstehen, wie die Welt sich dreht oder wie und warum ein Mensch sein Leben so oder so lebt. Wir werden immer nur einen leisen Hauch einer Ahnung davon haben, was ein anderer Mensch braucht, um zu heilen oder um mit sich einverstanden zu sein und weitergehen zu können. Und doch sitzen wir da als Helfer mit einem riesigen Schatz an wunderbaren Techniken und all dem Wissen über das Leben, die Polaritäten, die Anatomie und vieles mehr und…

…fallen ins Tun. Wir handeln.

Und in uns ertönt die Erinnerung an dieses kaum zu verstehende Nicht-Tun.

Mein Lehrer Akinobu Kishi hat in solchen Momenten, wenn er eine Behandlung vor der Gruppe gezeigt hat, dabei seit vielen Minuten still neben seinem Partner saß und spürte, dass Ungeduld aufkam und bei vielen Teilnehmern das Bedürfnis reifte, doch endlich ihn handeln zu sehen, ein einsames Wort leise aus seinem Mund fließen lassen:

Serenity – Gelassenheit

und gerne noch eines seiner wenigen deutschen Worte hinterher geschoben:

Gemütlichkeit

Entspannung machte sich breit im Raum. Es gab nichts zu tun.

Und so ist es. Es gibt nichts zu tun. Und es ist ein Segen für viele Menschen, dies zu spüren. Ja, es gibt nichts zu tun. Die Dinge sind wie sie sind und ich kann loslassen. Damit kann es auch weitergehen. Wenn wir aber daran arbeiten, dass etwas weggeht oder besser wird, entsteht oft Widerstand. Und dann treten wir auf der Stelle. Es scheint ein Paradox zu sein, doch ist es eine alte Weisheit. Die Dinge wollen gesehen werden. Alles und jeder will gesehen werden. Jedes Problem will gesehen und anerkannt werden, so banal das klingt. Dann kann es weitergehen. Dann kann sich das System entspannen und sich aufmachen zu einem neuen Phänomen, welches gesehen werden will.

Wir sind auf der Suche nach unserer Wahrheit und die können wir nicht beschreiben oder erklären, doch wir können sie sehen und schließlich ihr entsprechend leben.

In der Embody Prozessarbeit beobachten wir sehr viel. Wir sitzen in Geduld neben unserer Partnerin, gehen in Kontakt und beobachten. Gelassenheit. Wir öffnen uns der Resonanz. Es entsteht Raum, eine Bewegung tut sich auf und wir gehen mit dieser Bewegung in Kontakt. Gelassenheit. Es gibt nichts zu tun. Wir lassen uns nur in tiefstem Mitgefühl und höchster Konzentration ein auf dieses physisch-energetische Gespräch. Je geschulter unsere Wahrnehmung ist, umso mehr bekommen wir mit in diesem Gespräch und umso mehr sehen wir, ohne jedoch zu wissen. Es ist ein Tanz auf der Suche nach Wahrheit. Und dieser letzte Satz zeigt, wie problematisch unsere Sprache ist. Wir verbinden Wahrheit schnell mit Wissen oder Fakten und Suche mit aktivem Handeln. Doch ein Tanz ist ein Spiel und kein überlegtes, zielführendes Handeln. Vielleicht schreibe ich besser: Es ist ein Tanz, der hinführt zu uns, zu Dir und zu mir. Ein Tanz in dem wir uns näher kommen und dem sich selbst jeder näher kommen kann. Ein Tanz, sich zu entdecken und sich loszulassen. 

Gelassenheit ist eine ganz wundervolle Qualität und ich schätze sie noch wertvoller ein für unsere Arbeit und das Leben ganz allgemein, als die vielgelobte Achtsamkeit bzw. das Gewahrsein. Es gibt ja seit vielen Jahren einen regelrechten Achtsamkeitsboom mit unzähligen Publikationen, Kurssystemen und Anleitungen. Achtsamkeit ist, besonders in Gelassenheit ausgeführt, ein ganz wertvoller Begleiter.

Die Gelassenheit steht, Schulter an Schulter mit dem Mitgefühl, für mich ganz prominent an erster Stelle, wenn es um die Frage geht, wie ich mein Leben leben will und wie ich meine Arbeit gestalten will. Vor allem aber zur Frage, wie Embody Prozessarbeit im tiefsten Kern funktioniert.

Gelassenheit ist die Fähigkeit, Ruhe zu bewahren, egal was ist. Wenn ich mich nicht involviere obwohl ich ganz mitfühlend im Kontakt bin, geht es mir gut. Ich komme nicht in Stress und fühle mich nicht genötigt, zu reagieren. Ich bin allerdings voll wach und jederzeit bereit zu reagieren, wenn mein Mitgefühl mich dazu einlädt.

Dazu vielleicht zwei Beispiele:

>Angenommen ich nehme im Strassenverkehr jemandem aus Unachtsamkeit die Vorfahrt. Es kommt zu keinem Schaden. Der andere allerdings rastet völlig aus, hupt und schimpft wie verrückt und versucht mich, mit seinem Auto zu bedrängen. Bin ich gelassen, kann dieser aggressive Wind durch mich hindurch ziehen und beeinflusst nicht mein Befinden. Und da ich im Kontakt bin mit mir und der Welt, kann ich ganz klar empfinden, dass das von mir ein Fehler war, dem anderen die Vorfahrt genommen zu haben. Mir ist aber auch bewusst, dass die Reaktion des anderen noch eine ganz andere Dimension hat, die nichts mit diesem Vorfall zu tun hat. Also kann ich mich von Herzen entschuldigen und weiterziehen. Es bleibt nichts in mir hängen.<

>In einer Sitzung kommt bei meiner Klientin ganz plötzlich eine große Traurigkeit hoch. Sie weint und schluchzt. Ich weiß aus dem Vorgespräch, dass sie gerade in Trennung lebt und ihr Mann das Sorgerecht der Kinder vor Gericht erstritten hat. Ich fühle und schaue und erlebe mit ihr. Meine Gelassenheit ermöglicht mir, nicht zu handeln. Die Traurigkeit ist da und will erlebt werden. Ich weiß nicht, wo sie her kommt und mit welcher Erfahrung sie verknüpft ist. Schnell kann man sich verleiten lassen, eine Verknüpfung mit dem Trennungsthema herzustellen. Doch ich weiß nichts und es gibt nichts zu tun. Nur da sein, Raum geben und zulassen. Ganz gelassen.<

Übe Dich in Gelassenheit und Mitgefühl und du wirst es lieben. Deine Klienten werden es sehr schätzen. Und sie werden die Gelassenheit hineinlassen in ihr Leben und Mitgefühl für sich entwickeln. Was kann es Besseres geben?

 

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